Montag, 15.04.2024
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
heute möchten wir in einem Artikel zur gescheiterten Digitalisierung in Schweden Position beziehen. Gerne laden wir Sie dazu ein, mit uns darüber zu diskutieren!
Warum das digitale Schulbuch Schweden in den PISA-Abgrund riss
In letzter Zeit berichteten die Medien in großer Breite über die bildungspolitische Umkehr der skandinavischen Länder bei der Digitalisierung ihrer Schulen. Galten die Länder Norwegen, Schweden und Finnland noch bis 2022 als Paradebeispiele für gelungene Digitalisierung des Unterrichts, tauchten ab 2023 die ersten gegensätzlichen Meinungen auf. Innerhalb von nur einem Jahr kippte das schwedische Digitalisierungskonzept. Zuviel Kritik kam von Seiten der Eltern und Lehrkräfte beklagten den Verlust von Lesekompetenzen. Seinen lautesten Weckruf erhielt Schweden durch die Ergebnisse der PISA-Studie 2022. Schweden ist wie kein anderes Land im Ranking im Bereich der Lesekompetenz abgestürzt und ist jetzt nur noch OECD-Durchschnitt. (Quelle: Pisa-Absteiger: Warum Schwedens Schüler sich verschlechterten - DER SPIEGEL)
2024 stellte nun die schwedische Regierung 60 Millionen Euro zur Verfügung, um die vor fünf Jahren abgeschafften analogen Schulbücher wieder in die Klassenzimmer zurückzubringen. (Quelle: Schwedens Bildungspolitik: "Wir haben zu viel digital gemacht" | tagesschau.de)
Laut Berichten aus der Tagespresse spielten sich bei der „Re-Analogisierung“ skurrile Szenen in schwedischen Klassenzimmern ab: Schülerinnen und Schüler hielten ungläubig die Druckversionen ihres digitalen Schulbuchs in den Händen und versuchten vergeblich Bilder und Text „großzuziehen“. So mancher Schüler soll das „überzeugende 3D“ und die „extrem gute Auflösung“ des Buches gelobt haben.
Ist das der Beweis dafür, dass digitale Schulbücher analoge Schulbücher nicht ersetzen können? Sind digitale Schulbücher analogen immer unterlegen?
Um diese Fragen beantworten zu können, muss man sich die Potentiale und Einschränken der digitalen Medien und Methoden im Allgemeinen und die von Schulbüchern im Speziellen vor Augen führen. Es gibt Einsatzbereiche in der Schule, in denen digitale Schulbücher wenig bis absolut keinen pädagogischen Nutzen oder Mehrwert haben, aber auch didaktische Szenarien, in denen sie, und das wurde auch wissenschaftlich belegt, dem traditionellen Schulbuch klar überlegen sind und Lernprozesse deutlich effektiver gestalten könnten.
Das "schlechteste" digitale Schulbuch: das Schulbuch als pdf.-Datei
Die 1:1-Substitution eines analogen Mediums durch ein digitales erzeugt niemals einen Mehrwert, vielmehr sogar Nachteile. Das bloße Überführen eines analogen Mediums in eine digitale Form, z. B. das Einscannen eines Textes, um ihn dann am Tablet zu lesen, ist nicht genügend gewinnbringend. Wenn Schulbücher in digitaler Form im Unterricht verwendet werden, nur um kein analoges Buch dabei haben zu müssen, erzeugt dies im besten Fall einen in Gramm messbaren positiven Effekt für die Schultasche. Im schlechtesten Fall treten deutliche Negativeffekte pädagogischer und lernpsychologischer Art für den Lernenden auf: Die Schülerinnen und Schüler haben auf dem digitalen Medium keine Übersicht über den Text und können ihn in seiner Gesamtheit nur noch schwer erfassen. Dies gilt insbesondere für ganze Stoffbereiche oder Kapitel. Ein Text verliert seine haptische Qualität und wird zu einem digital-abstraktem Konzept ohne Substanz. Zudem verlieren die Lernenden leicht die Übersicht bei der Dateiverwaltung und -ablage. Materialien schwirren im digitalen Raum herum, ohne chronologischen und konzeptionellen Zusammenhalt oder gehen sogar verloren. Leseforscher haben in Studien belegt, dass digitale Texte eher quer und oberflächlich auf der Suche nach der nächsten relevanten Information und gedruckte Texte hingegen langsamer, intensiver und mit einem Fokus auf Gesamtbedeutung und Sinnzusammenhänge gelesen werden. (Quelle: Leseforschung - Buch oder Bildschirm? (deutschlandfunkkultur.de)
Das "mittelgute" digitale Schulbuch
Digitale Schulbücher sollten im Bildungssystem erst dann eingesetzt werden, wenn für den Unterricht klar positive Aspekte aktiviert werden können. Folgende Aspekte bieten sich hier an:
- Annotierbarkeit und Kommentierbarkeit von Inhalten und Texten.
Wenn Lernende in einem Text arbeiten können, indem sie handschriftliche digitale Notizen, Markierungen und Verweise einarbeiten, erhöht sich die Verständnisleistung. Dies ist erst sinnvoll möglich, wenn die Lernenden über ein digitales Endgerät mit Stifteingabe und passender Software verfügen. Zudem benötigen Sie die notwendigen Medienkompetenzen, um diese Tätigkeiten gewinnbringend auszuführen.
- Möglichkeit zur digitalen Weiterverarbeitung.
Ein digitaler Inhalt oder Text kann in seiner editierbaren Version in neue didaktische Kontexte gestellt werden: Lange Texte können gekürzt werden, Fachbegriffe ersetzt oder erklärt werden, Passgagen können umformuliert werden und Begriffe zur Verdeutlichung bebildert oder durch Verlinkungen visualisiert werden. In einer Fremdsprache können Texte von digitalen Sprachausgaben vorgelesen werden.
Der pädagogische Mehrwert wird qualitativ und die möglichen Einsatzszenarien quantitativ erhöht. Auch hier benötigen die Schülerinnen und Schüler die notwendige Hardware und weitreichende Medienkompetenzen, um diese Aufgaben zu bewältigen.
Das "besonders gute" digitale Schulbuch
Deutliche Mehrwerte lassen sich generieren, wenn das Schulbuch zusätzlich zu den oben genannten Aspekten durch interaktive, multimediale Inhalte und digital-kooperative Aktivitäten angereichert ist. Dies könnte z. B. so umgesetzt sein:
- Veranschaulichung der Zusammenhänge durch Filme und H5P-Dateien
- Interaktivität durch Überprüfung von Teilzielen durch Quizzes, Zuordnungsaufgaben oder Übungen mit automatisiertem individuellem Feedback
- Zusätzliche individuelle Hilfestellungen und alternative Erkläransätze
- Bereitstellung eines Textes in mehreren Versionen in verschiedenen Anspruchsniveaus
- Möglichkeiten zum kooperativen Arbeiten in einer datenschutzrechtlichen Umgebung
- Vertiefende und weiterführende Aktivitäten und Inhalte für besonders leistungsfähige und schnelle Schülerinnen und Schüler
Leider sind auch diese Aktivitäten in digitalen Schulbüchern nur selten zu finden. Zum einen ist die Realisation eine Kostenfrage für die Schulbuchverlage. Die Umsetzung müsste in eine komplexe digitale Lernumgebung eingebettet sein. Zum anderen geraten die Schulbuchverlage somit automatisch in eine datenschutzrechtliche Problemsituation. Gerade bei der Auswertung von Schülerlösungen zur Erstellung eines automatisierten Feedbacks, müssen personenbezogene Daten verarbeitet und gespeichert werden. Dies kann schulrechtlich ohne den Umweg der Datenanonymisierung nicht akzeptiert werden. Somit wird das volle Potential eines digitalen Schulbuches, mit allen oben genannten Aspekten, von einem privatwirtschaftlichem Schulbuchverlag wohl niemals ganz erreicht werden können.
Folgende allgemeine Empfehlungen können gegeben werden:
- In textintensiven Fächern, wie z. B. Deutsch, sollten längere und auf die Erfassung der Gesamtbedeutung angelegte Texte weiterhin im Ganzen als gedruckte Version gelesen werden. Die Bearbeitung von kürzeren Textauszügen aus dem Gesamttext hingegen, sollte durchaus auf digitalem Weg und mit digitalen Methoden erfolgen.
- In Fremdsprachen sollte jeder analoge Text auch in einer digitalen Form vorliegen, um ihn mit digitalen Methoden individuell bearbeiten und entlasten zu können. Dies könnte das schnelle und komfortable Nachschlagen von Wörtern oder das Vorlesen lassen über eine Sprachausgabe sein.
- In MINT-Fächern können Sach- und Informationstexte durchaus in digitaler Form vorliegen, aber es müssen auch die Bereiche des automatisierten Übens und Feedbacks genutzt sein.
Je nach Schulart, Jahrgangstufe, Fach und Stoff muss jede Schule individuell entscheiden dürfen, ob der Einsatz technisch-organisatorisch möglich und medienpädagogisch sinnvoll ist.
Folgende Leitlinien könnten als Orientierungsrahmen für eine sinnvolle Einführung und Nutzung dienen:
- Je niedriger die Klassenstufe ist, umso geringer sind die Kompetenzen der Lernenden im Umgang mit digitalen Schulbüchern. Digitale Schulbücher sollten nur in einzelnen Fächern als Arbeitsmittel eingeführt werden. Zunächst in einer Eingewöhnungsphase als Backup und im späteren Verlauf für die tägliche Arbeit in der Schule.
- In den Fächern mit starkem Sachinformationsgehalt können digitale Schulbücher auch schon in früheren Jahrgangstufen eingesetzt werden, wenn diese über mehrere gewinnbringende medienpädagogische Qualitäten verfügen, z. B. eine hohe Multimedialität.
- In Sprachenfächern sollten längere Lektüren immer und in allen Jahrgangsstufen in der Druckversion gelesen werden. Auch bei Texten mit einem Fokus auf der Gesamtbedeutung ist es ratsam, traditionelle Texte zu verwenden. Die Arbeit mit Texten kann mit digitalen Medien und MEthoden erfolgen.
- In Fremdsprachen ist besonders bei Textarbeit eine hybride Lösung sinnvoll.
- Je höher die Klassenstufe ist, umso höher kann die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler eingeschätzt werden und die Anzahl der digitalen Schulbücher erhöht werden.
- Die Schule muss garantieren, dass die Schülerinnen und Schüler die notwendigen Medienkompetenzen zu Nutzung von analogen, digitalen und analog-digitalen Hybridlösungen gemäß ihrem Alter erhalten.
Deutschland sollte nicht den gleichen Fehler bei der Einführung von digitalen Schulbüchern machen wie Schweden. Pauschal in allen Klassenstufen und über alle Fächer hinweg analoge Schulbücher durch digitale zu ersetzen, muss als medienpädagogischer Fehler gewertet werden.
Herzliche Grüße
Birgit Zimmermann, Peter Zimmerer und David Bartmann Beratung digitale Bildung für die Gymnasien in der Oberpfalz
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